Im Kinderheim in Crailsheim waren die Strafen viel härter

  • Sillenbuch - Immer wieder erwachen die Erinnerungen an die Schalksburg. So hieß das Zimmer im Sillenbucher Kinderheim, in dem Axel Kurth in den Sechzigern vorübergehend wohnte. Warum er in seinem Elternhaus im Stuttgarter Osten nicht bleiben konnte, möchte der heute 63-Jährige nicht öffentlich breittreten. Nur so viel: Er kam aus schwierigen Verhältnissen. Im Kinderheim Sillenbuch, das die Kinder damals einfach Kisi nannten, ist er aufgeblüht. „Das war allein die Atmosphäre“, sagt er. „Das war ein Zuhause.“


    Das Haus gibt es heute nicht mehr an der Tuttlinger Straße


    Das Kinderheim gibt es nicht mehr. Das Gebäude – die einstige Gastwirtschaft Waldhorn – stand dort, wo Buowaldstraße und Tuttlinger Straße aufeinandertreffen. Es ist 1951 eingerichtet worden, als sogenanntes Kinderbeobachtungsheim. In amtlichen Unterlagen steht, dass das Heim mit der Absicht gegründet worden ist, „eine Langzeitbeobachtung in geeigneter Umgebung zu ermöglichen“. Es gab erst 18, später 14 Plätze. Die Beobachtungen wurden 1989 eingestellt, und das Haus wurde bis 2000 als normales Kinderheim betrieben.


    Heute steht dort ein Mehrfamilienhaus. Das stellte auch Axel Kurth fest, als er vor zwei Jahren mit seiner Lebensgefährtin durch Alt-Sillenbuch geirrt ist. Es war das erste Mal seit damals, dass er dort war. „Ich habe lange gesucht“, sagt der Mann, der heute bei Worms lebt. Als er einsehen musste, dass sich die Gegenwart über die Vergangenheit geschoben hat und das Kisi nur noch in seiner Erinnerung existiert, „da war ich schon traurig“, sagt er.


    Seit der Rente hat er Zeit zum Nachdenken


    Seit der Fernmeldetechniker Axel Kurth in Rente ist, hat er Zeit. „Man kommt zur Ruhe und denkt nach.“ Über ein Internetforum sucht er Leute, die wie er im Kisi waren. Gemeldet hat sich bisher nur eine Frau. Das war im vergangenen November. Er berichtet ihr von Frau Ilgenfiz aus der Küche, von Herrn Müller, der samstags immer für Theateraufführungen kam und von Frau Moser und ihrer Isetta. Sie erzählt ihm von Laubraschelspaziergängen, Fasching und dem ersten Zungenkuss.


    Axel Kurth kann beurteilen, ob es in einem Kinderheim nett zuging. Nach seiner Zeit in Sillenbuch war er zunächst daheim und danach im Kinderheim Tempelhof in Crailsheim. „Da hatte ich leider nicht so viel Glück“, sagt er. Auch dazu findet sich ein Eintrag im Kinderheim-Forum.


    Im Kinderheim in Crailsheim waren die Strafen viel härter


    Gab es nach seinen Angaben in Sillenbuch kaum Strafen, galt für Crailsheim anderes: „Die Strafen waren bei uns recht einfach im Tempelhof, und wer das ,Glück‘ hatte, in der Gruppe Müller zu sein, der weiß es. Würde ich alles beschreiben wollen, so würde man mir wahrscheinlich auch heute nicht glauben. Kurz gesagt, gab es ausreichend Prügel in allen denkbaren Variationen“, schreibt er. Teils seien dabei sogar Mobiliar und Besenstiele kaputtgegangen. Manchmal fragt er sich, warum „solche Gewaltpädagogen“ davongekommen sind.


    Axel Kurth sagt, dass er aber auch Glück im Leben gehabt habe. „Mir ging es zumindest finanziell gut“, sagt er. Zumindest. Die psychische Last der Vergangenheit hat er mit sich ausgemacht, wenn Zeit dafür war. Umso lieber denkt er an das Kisi. Auch wenn die Sillenbucher „uns gegenüber eher reserviert waren“, sagt er. Sie waren eben die Kinder aus dem Kinderheim.


    Das eine Flüsschen hieß Ganges, das andere Mississippi


    Doch dies schmälert die Nostalgie nicht. „Schön waren vor allem die Ausflüge“, erzählt er. Dann ging es in den Riedenberger Park oder in den Wald. Er kann sich noch an zwei Flüsschen im Bußbachtal entsinnen. „Der eine hieß bei uns Ganges, der andere Mississippi.“ Stehen im Jahr 2014 an der Tuttlinger Straße etliche Wohnhäuser, sah es in den 1960ern völlig anders aus. „Hinter dem Kisi hat die Welt aufgehört“, sagt er. Er wünscht sich, all die Erinnerungen mit jemandem zu teilen, der das selbst erlebt hat.


    Judith A. Sägesser
    Quelle: http://www.stuttgarter-zeitung.de

    "Ich bin nur dafür verantwortlich, was ich sage - nicht dafür, was Du verstehst!

  • Dieses Thema enthält 2 weitere Beiträge, die nur für registrierte Benutzer sichtbar sind, bitte registrieren Sie sich oder melden Sie sich an um diese lesen zu können.