Reimar Oltmanns (* 21. Juli 1949 in Schöningen) ist ein deutscher Journalist und Buchautor.
[ er war mit mir in derselbem Heimgruppe in Osnabrück (Haus Neuer Kamp) ]
Aus; Kein schöner Land in dieser Zeit. Verlorene Illusionen.
...
Szenenwechsel - von der Hafenstadt im Ostfriesischen an den Rand des Teutoburger Waldes - mit dem Eilzug von Emden-West nach Osnabrück HBF. Im Rahmen der "freiwilligen Jugendhilfe"
( floras: FEH - freiwillige Erziehungshilfe)
war dann doch das Fräulein Pausepohl mit ihrer obligat-akkuraten Knotenfrisur als
Fürsorgerin in dieser Epoche aktiv geworden, hatte für Gregor kurzerhand in einem evangelischen Kinder- und Jugendheim ein Plätzchen ergattern können. Heimjahre - das waren keine Kinderjahre, eher schon Bett- oder auch Sexjahre unter kirchlicher Obhut. Das Gebäude, ein h-förmiger Betonkasten in der Größe eines Fußballplatzes mit 98 Fenstern, lag draußen an der Stadt-Peripherie, eingezäunt zwischen Wald und Acker. Weit und breit nur Wiesen, Lehmwege; ein Getto, aus dem es kein Entkommen, kein Abhauen gab. Mit ihrem Fernglas auf dem Balkon hatte Heimleiterin Gertrude Timmermann das vermeintlich ganze Fluchtareal unter Kontrolle, konnte blitzschnell wegrennende Jungs wie Karnickel ausmachen, aufscheuchen, mit einem dreimonatigen Stubenarrest bestrafen. Da hockten die geschlagenen, geschunde nen Kinder nun in ihren
eingezäunten Zimmern vom "Haus Neuer Kamp" zu Osnabrück, dem vorzeigbaren, erlesenen Heimneubau der evangelischen Kirche. Meist erzählten sie sich, wenn sie überhaupt redeten, undnicht durch die Verabreichung von Tranquilizer ruhig gehalten wurden, dann redeten sie von ihren Geschichten, den Gewalt-Geschichten, eine obszöner als die andere - der Stephan aus Hannover, der Ronald aus Berlin, die Karin aus Celle oder auch Ilona aus Iserlohn, der Gregor aus Emden; keiner war mal gerade älter als zwölf Jahre.
Dabei schilderten sie ihre sexuellen Kinder-Erlebnisse - Ur-Geschehnisse mal eben so mit einer scheinbaren Lockerheit, auch arglosen Unbekümmertheit, als hätten sie sich gerade einen Haribo-Lutscher gekauft. Sie hatten sich sehr oft im Halbkreis aufzusetzen und aus ihrem Liederheftchen "Mundorgel" zu trällern. Da lagen sie "vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord" oder sie sangen "kein schöner Land in dieser Zeit, als hier das unsere weit und breit". Jeden Morgen vor dem Frühstücksgebet, so wollte es das Heim-Ritual, galt es ein besonders zutreffendes Liedchen zu schmettern; "Froh zu sein bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König." - Realsatire oder bittere Ironie ausgegrenzter Kinder-Jahre. Allabendlich zur Gebets-Andacht vor dem Zubettgehen hatten sie in der Heimhalle ihren Segen mit sauberen Fingernägeln abzuholen und zu summen "Herr erbarme dich" ... ... Das war am Sonnabend immer so, bevor des Nachts schwanzpralle Erzieher während ihres Nachtdienstes zu den Jungs unter die Bettdecken krochen oder sich Kindergärtnerinnen ihre Nylon-Strumpfhosen von kleinen Mädchen abpellen ließen.
...
der Stephan aus Hannover, der Ronald aus Berlin, die Karin aus Celle oder auch Ilona aus Iserlohn, der Gregor aus Emden; keiner war mal gerade älter als zwölf Jahre.
Stephan, Ronald und Ilona waren auch in meiner Heimgruppe.
Karin ist mir auch bekannt (Mädchengruppe) und bei Gregor bin ich mir nicht ganz sicher.
